Puck im Gespräch
Interviews und Unterhaltungen mit Leuten aus Kunst, Kultur und drum herum

«Vom Hinfallen und Aufstehen»

Noch bis 26. September bespielen die Künstlerinnen Gabriela Falkner und Bárbara Nimke die Galerie im Schloss Dottenwil mit ihrer Schau «ordinary magic». Es ist eine Ausstellung, für die sich die beiden Frauen intensiv mit dem Ort und seiner Geschichte befasst und spezifisch hierfür Werke entwickelt haben. Das Ergebnis sind Arbeiten, in denen persönliche Erlebnisse auf das Vorgefundene Bezug nehmen. Was dabei das «Leiterli»-Spiel, eine Badewanne voller Pusteblumen oder angeschlagene Porzellantassen mit dem ehrwürdigen Bauwerk oberhalb Wittenbachs zu tun haben, beantworten die zwei im Interview.

Verratet doch als erstes: Wie kam es überhaupt zu dieser Ausstellung?

Bárbara Nimke: Vor ungefähr zwei Jahren sind wir vom Galerie-Team eingeladen worden, zusammen eine installative Ausstellung im Dottenwil zu realisieren. Das war zunächst eine Überraschung, da wir beide als Einzel-Künstlerinnen arbeiten und kein erklärtes Künstler-Duo sind. Der Gedanke, sich gemeinsam an dieses Projekt zu wagen, war reizvoll und wir haben uns darauf eingelassen.

Wie seid ihr danach vorgegangen, um euch und ebenso die Richtung für das Projekt zu finden?

Gabriela Falkner: Es war klar, dass es eine installative Ausstellung werden soll, die eben nicht nur an den Wänden, sondern auch mitten im Raum präsent ist. Deshalb war uns wichtig, zunächst Zeit in den Räumen zu verbringen und sie wahrzunehmen. Eine physische Aneignung zu vollziehen, wenn man so sagen kann. Wir waren oft dort, sind bewusst in die Räumlichkeiten eingetaucht und wollten die Geschichte des Ortes kennenlernen und verstehen. Dafür haben wir auch Menschen befragt und in Archiven recherchiert.

Was brauchen wir, damit eine Verletzung heilen kann?

Bárbara: Dank diesen Nachforschungen stellte sich heraus, dass das Galeriegebäude einst ein Molke-Kurhaus war. Und damit war die Idee für die inhaltliche Richtung der Ausstellung erwacht.
Mit dem Wissen um das Kurhaus standen unterschiedliche Fragen im Raum: Wer geht zu einer Kur? Wann tut man das? Was erhofft man sich von so einem Aufenthalt? Der Schritt zu Überlegungen rund um die Verletzlichkeit – im psychischen wie im physischen Bereich – folgerte sich daraus. Und schliesslich die Überlegung: Was brauchen wir, damit eine Verletzung heilen kann? Warum gibt es Wunden, die nicht abheilen? Diese Überlegungen zu visualisieren, schien uns auf einmal naheliegend.

Das klingt nach einem spannenden, aber auch schmerzlichen Ansatz. Ich stelle mir vor, dass es einen emotional ganz schön fordert, derartige Inhalte «anzupacken»?

Bárbara: Es beschäftigt einen tatsächlich emotional, denn einige persönliche Erfahrungen – bereits Verarbeitetes – kamen wieder an die Oberfläche. Das war ein Teil vom gesamten Arbeitsprozess.
Wir haben uns immer wieder intensiv ausgetauscht und dabei sind neue Gedanken hinzugekommen. Und so kristallisierte sich heraus, dass wir nicht nur Wunden, Narben und Verletzlichkeiten zeigen wollten, sondern auch die positive Fähigkeit der Widerstandskraft.

Wir setzen auf Reduktion und Verdichtung

Gabriela: Die Auseinandersetzung war für mich insofern spannend, als dass ich viel über die Resilienz an sich erfahren habe. Wir haben uns ja bereits vor Corona mit dieser Thematik auseinandergesetzt und Studien und wissenschaftliche Untersuchungen dazu gelesen. Das emotionale Fordern war für mich eher der Prozess bis hin zur Ausstellung: Zeit und Leere aushalten. Denken. Bilder im Kopf forcieren und entwickeln. Verwerfen und loslassen. Verbindungen herstellen zwischen dem Thema, das man vermitteln will und der passenden Materialität. Und letztendlich: Das Austesten der Wirkung am Ort.

Als Betrachter:in steht man Kunst gegenüber oft vor einem Rätsel. Man kann einfach nicht entschlüsseln, was die Werke vermitteln sollen. Seid so nett, und gebt hier mal Hilfestellung.

Gabriela: Uns ging es in den Arbeiten darum, Spannungsbogen zu inszenieren: Wunden – Narben, Fragilität – Beschützung, Heilung –  Zerfall, Zerbrechlichkeit – Humor, Verletzlichkeit – Widerstand und immer wieder das Hinfallen und Aufstehen. Dabei setzten wir auf Reduktion und Verdichtung. Wir wollten unsere Gedanken und Überlegungen in eine neue Sichtbarkeit mit eigener visueller Sprache übertragen. Nicht plakativ und laut, sondern durch besondere Materialien ästhetisch angedeutet.

Und was mache ich nun, wenn ich zwar weiss, worum es geht, aber ich ungeübt bin bei Kunstinterpretationen? Was wollen mir zum Beispiel die Tässchen aus feinem Porzellan im Erd­geschoss sagen? Sie sind alle irgendwie beschädigt. Oder was ist mit dem überdimensionalen «Leiterli-Spiel» im unteren Stock?

Bárbara: Jeder soll frei in seiner Betrachtung sein… aber gut (schmunzelt), wenn du ein paar «Leseanleitungen» haben willst… Die Tassen sind eine Einladung um gemeinsam Kaffee zu trinken – ein Symbol für Zeitschenken, für Zuhören, für Verstandenwerden. Aber wie du richtig sagst: Alle Tässchen haben die eine oder andere «Macke». Damit spiele ich auf unsere Fragilität an, unsere eigenen Narben, Schieflagen und Verletzungen. Und teilweise geben genau diese Bruchstellen der Tasse etwas Besonderes – eine gewisse Magie.
Und zum «Leiterli-Spiel»: Die heutige Forschung sagt, dass es erlernbar sei, nach einer Niederlage wieder auf die Beine zu kommen, und kein genetisches Schicksal. Hierfür steht das Spiel: Schon in der Kindheit lernen wir durch Spiele, Rückschläge oder auch Siege zu erleben und damit umzu­gehen.

Ah, okay. Und jetzt nur noch eine Frage zum Schluss: Ihr wusstet nicht, was am Ende bei eurem ungewohnten «Duo-Einsatz» herauskommt. Wie seht ihr das Projekt in der Rückschau?

Bárbara: Wenn man allein an einer Sache arbeitet, dreht man sich manchmal im Kreis. Ein Gegenüber zu haben, kann aus dieser Gedankenspirale raushelfen; neue Impulse und andere Aspekte können den Blickwinkel öffnen. Das ist spannend, beinhaltet aber auch ein Ringen mit sich und dem anderen. Ich für mich kann sagen: Es hat sich gelohnt. Mit dem, was gewachsen ist und wir hier zeigen, bin ich glücklich und zufrieden.

Gabriela: Ich habe bereits früher mit anderen Künstler:innen zusammengearbeitet, so wusste ich, dass es ein ganz anderer Prozess ist als bei einer Einzelausstellung. Die Versuchung, die Räume untereinander aufzuteilen, kam immer mal wieder zur Sprache. Dass wir aber konsequent an einer gemeinsamen Umsetzung von «ordinary magic» festgehalten haben und eine Ausstellung zeigen, die als Ganzheit wahrgenommen wird, freut mich sehr.

Vielen Dank für das Gespräch!

Mehr zu Gabriela Falkner unter: www.gabrielafalkner.ch

Mehr zu Barbara Nimke unter: www.kuenstlerarchiv.ch/barbaranimke


«ordinary magic» noch bis 26.9.2021
Samstag, 14:00 – 20:00 Uhr
Sonntag,  10:00 – 18:00 Uhr


Samstag, 25. September:
Pascale Pfeuti – Performance mit Musik & Sprache, 14 Uhr und 16 Uhr, pascalepfeuti.de

„Wir machen keine Kunst! Wir machen Probleme!“

Ein Gespräch mit Frank Riklin 

 „Ich komm‘ sofort – mach’s dir bequem – ich hole noch was – magst du einen Kaffee – Patrik musste wegen was Dringendem nach Zürich – er sagt sorry dafür – gleich bin ich da…“ Frank, die neun Minuten ältere Hälfte des konzept-künstlerischen Zwillingspaars Frank & Patrik Riklin fegt durchs „Atelier für Sonderaufgaben“. Dann schnappt er sich den Stuhl mir gegenüber und lächelt schelmisch. „Also, was willst du wissen?“ Oh, ne ganze Menge! Fangen wir einfach mal vorne an…

Frank, du und dein Bruder Patrik seid mittlerweile bekannt wie bunte Hunde. Man weiss viel über eure Projekte – vom „Kleinsten Gipfeltreffen der Welt“ bis zum „Null Stern Hotel“. Die Medien lieben euch. Was gibt es zu erzählen, das kaum jemand weiss? Unsere Anfänge sind vermutlich relativ unbekannt. Wir sind als die beiden Jüngsten in einer Familie mit sechs Kids aufgewachsen. Unsere Eltern liessen uns viel machen, ausprobieren…. Dass wir heute in der Konzeptkunst gelandet sind, hat ganz klar was mit unserer Kindheit zu tun.

Alltag Agentur Maurus Hofer

Frank & Patrik Riklin (®Marcus Gossolt)

In wie fern? Vom neunten bis zum 18. Lebensjahr haben wir im St. Galler Staatswald Strebel hinter dem Rosenberg verschiedene Hütten gebaut. Diese „Hüttenbauerei“ war quasi unsere erste „Sonderaufgabe“. Begonnen hat alles, unserem jungen Alter entsprechend, mit kleinen Ästen und einer Wärmedämmung aus Laub und zerknülltem Zeitungspapier. Mit 18 waren wir soweit, dass wir Fundamente in den Hang betonierten und Waldhütten bauten, eigentlichen waren es Häuser, in denen wir sogar wohnten. Bis uns die Baupolizei einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Wir lebten da völlige Anarchie… und unsere Eltern haben uns das erlaubt.

Elf Jahre Hütten bauen ist eine lange Zeit. Was hat euch so daran gereizt? Der Antrieb war das Geheime: Das Bauen ohne zu fragen. Die Fantasie in die Wirklichkeit zu holen. Dieses Element hat uns später auch in die Kunst getrieben. Die Erfahrung, dass Ideen nicht nur auf dem Papier leben, sondern dreidimensional in die Welt gesetzt werden können, fasziniert uns nach wie vor.

Ihr habt dann nach der Schule beide getrennt eine Hochbauzeichnerlehre gemacht. Im Anschluss habt ihr an verschiedenen Orten Kunst studiert. Ja, wir mussten uns wohl als Zwillinge erst auseinander dividieren, bevor wir zusammenfinden konnten. Oft gab es starke Rivalitäten zwischen uns.

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EinBlick ins „Atelier für Sonderaufgaben“

Erinnerst du dich noch an…mmmh…nennen wir es mal: „Projekt X? Das erste wirklich gemeinsame Projekt eurer Laufbahn?  Aber ja. 1998 kam es zur ersten freien gemeinsamen Arbeit unter dem Titel „79 Schlafzimmer“. Da wollten wir eine gerade geborene Idee unmittelbar und innert drei Tagen umsetzen.

Was habt ihr gemacht? Wir klingelten bei 79 ausgewählten Menschen an der Haustür und baten darum,  dass sie ihr eigenes Schlafzimmer für zehn bis 30 Sekunden filmen. Dafür haben wir  unsere Kamera an der Haustür abgegeben,  liessen die Leute filmen, bekamen die Kamera zurück und gingen weiter. Fast alle haben mitgemacht. Durch diese Arbeit haben wir den Finger auf das Thema Voyeurismus gelegt – und den Voyeurismus schliesslich unterwandert.

Kurze Zwischenfrage: Warum gerade 79?  Weil man mit 79 Personen die Bevölkerungsverteilung der Stadt St.Gallen abbilden kann: Mit dieser Anzahl kann man repräsentativ aufzeigen, wie viele Reiche, Arme, Ausländer, Künstler usw… hier leben.

Okay, danke. Und wie ging es mit dem Projekt weiter?  Wir haben die Aufnahmen zu einem filmischen Ornament zusammengeschnitten und beschlossen, diese Filmarbeit genau ein einziges Mal zu zeigen. Und zwar im Lagerhaus hier in St.Gallen. Da gibt es ein Treppenhaus mit 79 Stufen. Auf jede Stufe klebten wir den Namen eines „Akteurs“. Am Treppenende war dann der Film zu sehen – allerdings ohne Hinweis, welches Schlafzimmer von welcher Person stammt. Die Zuschauer konnten nur spekulieren. Ihre Hoffnung zu erfahren, wie etwa das Schlafzimmer des Stadtpräsidenten aussieht oder ob ein Banker kreativer eingerichtet ist, als zum Beispiel ein Künstler, wurde nicht gestillt. Die Intimsphäre der Einzelnen blieb gewahrt.

Kunst ist nicht zum Selbstzweck da

Kann man den Film heute noch anschauen? Vom Film haben wir 79 Kopien angefertigt, die zum Kauf angeboten wurden. Allerdings sind alle zwischen zwei Metallplatten verschraubt. Man kann den Film folglich nicht anschauen, ausser, man zerstört das Werk. Aber auch dann gibt es nicht das zu sehen, was man sich erhofft. Denn auf dem verkauften Video sind nur Patrik und ich im Bett zu sehen. Wie gesagt: Der Film war dazu gemacht, nur ein EINZIGES Mal gezeigt zu werden… und dabei bleibt es.

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verschraubt: Nr. 65 der „79 Schlafzimmer“

Ihr habt schon damals keine halben Sachen gemacht! Wie sieht es jetzt, fast 20 Jahre später, mit euren künstlerischen Ansätzen aus? Wir sagen: Kunst braucht eine Funktion, die ein reales Verhältnis mit anderen Teilsystemen schafft. Unsere Kunst ist nicht zum Selbstzweck da. So betrachtet, machen wir keine Kunst, wir machen Probleme. Probleme sind für uns Zustände, Dinge offen zu legen. „Probleme“ sind verkleidete Möglichkeiten. Wir wollen nichts wegschieben, sondern mit dem Problem arbeiten. Da sind Überraschungen drin.

Was passiert, solltet ihr doch mal an den Punkt kommen, wo ihr keine „Probleme“ mehr macht? Naja, dieser Tag liegt hoffentlich in weiter Ferne (schmunzelt). Bisher haben wir kein einziges Projekt, das nicht Konflikt und Reibung auslöst. Wenn es jemals so weit kommen sollte,  sind wir nicht mehr die Künstler, die wir sein wollen. Unser Anspruch ist, was zu bewegen. Wenn das nicht mehr so ist, sind wir nur Dienstleister, die tun, was andere wünschen.

 

Und zum SCHLUSS natüüürlich:

Vielen Dank an Frank und Patrik Riklin: Dafür, dass ihr das Gespräch trotz wichtiger „To dos“ in Züri nicht abgeblasen habt. Und dafür, dass sich deshalb einfach Frank die Zeit für mich genommen hat. Danke für all die spannenden Infos. Und für den Kaffee!

Hier gibts noch mehr: Atelier für Sonderaufgaben, Die Zukunft gehört den Artonomisten, SRF: Freigeister unter freiem Himmel oder in diesem Blick-Bericht

 

(Bilder: freundliche genehmigt durch Frank und Patrik Riklin)

Vom Bild im Kopf zum Bühnenstück

„Was am Schluss auf der Bühne ist, darf anders sein, als das, was ich beim Schreiben im Kopf dazu gesehen habe.“, findet Autorin Rebecca C. Schnyder. Mitte September wird ihr preisgekröntes Stück „Alles trennt“ in der St. Galler Kellerbühne uraufgeführt. Rund zwei Monate vor der Premiere sprach das rothaarige Energiebündel über Traumbesetzungen und Finanzierungs-Knacknüsse.

Rebecca, im Herbst kommt dein neues Bühnenstück Alles trennt zur Aufführung. Wie lange ist dieses Projekt bereits in der „Pipeline“? Oh, schon eine ganze Weile. So richtig nahm die Idee, die Inszenierung des Stücks voranzutreiben, aber 2015 an Fahrt auf.

Gab es einen bestimmten Auslöser? 2015 wurde Alles trennt zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen. Das ist ein renommiertes Festival für neue Dramatik,  welches seit 1984 durchgeführt wird. Jährlich werden dort im Rahmen eines Wettbewerbs weit über hundert Werke beurteilt und sechs erhalten eine Einladung zum Festival. Ausserdem werden die eingeladenen Stücke mit einer szenischen Lesung und Autoren- Gespräch der Öffentlichkeit vorgestellt. Als Alles trennt eingeladen wurde, war meine Motivation gross, nun auch richtig damit auf die Bühne zu gehen.

Mit wem setzt du denn dein Projekt um? Seitens Inszenierung/Dramaturgie/Regie sind wir wieder mal als Formation der „Freirampe“ unterwegs. Wir haben bereits 2014 zusammengearbeitet, was sehr gut lief. Und was die Besetzung angeht, haben wir unser „Dream-Team“ gewinnen können. Es besteht aus Doris Strütt vom Kellertheater Winterthur, Judith Koch und Romeo Meyer.

Traum-Trio: Romeo Meyer, Doris Strütt & Judith Koch

Ein Trio als Besetzung klingt nach einer inhaltlichen Dreiecks-Kiste. Eine Dreiecks-Kiste ist es schon irgendwie. Aber anders, als vielleicht erwartet. Prinzipiell geht es um eine hochproblematische, symbiotische und stark auf Macht und Druck angelegte Mutter-Tochter-Beziehung. Und es geht darum, wie ein junger Mann in diese Konstellation hinein katapultiert wird und was dann daraus entsteht….

Wie fühlt es sich an, wenn eine Idee, die man so lange alleine ausgefeilt hat, praktisch von anderen „übernommen“ wird und einen zusätzlichen Drive bekommt? Die Umsetzung auf der Bühne ist ja eigentlich die Erfüllung der Arbeit, da ein Drama nicht als Lese-Stück angelegt ist. Das bedeutet: Selbst, wenn es fertig geschrieben ist, ist es noch nicht fertig. Ich verfolge den Ansatz, dass das, was der Regisseur daraus weiter macht, zwar sein kann, aber nicht sein MUSS, was ich beim Schreiben im Kopf gesehen habe. Und Stefan Camenzind, der das Stück nun inszeniert, vertraue ich voll und ganz.

Zum Schluss noch eine Sache: Das Stück ist da, die Crew ist da… sind denn auch die nötigen finanziellen Mittel für die Umsetzung da? Uff, das ist vermutlich die einzige Knacknuss bei der ganzen Sache. Bei Theater-Produktionen ist die Finanzierung ein echtes Problem. Die ist immer schwierig zu stemmen. Aktuell haben wir daher auch eine Crowdfunding-Kampagne am Laufen, weil wir damit schon einmal tollen Erfolg hatten. Mal abwarten, ob es auch diesmal klappt. Falls nicht, suchen wir eine andere Lösung. Bisher haben wir immer noch eine gefunden.

Danke Rebecca C. Schnyder für die spannende Unterhaltung. Und viel Erfolg beim Crowdfunding. Wer die Produktion von Alles trennt unterstützen will, kann dies übrigens noch bis Mitte September tun. Und zwar hier: 100-days

 

Zum Inhalt von Alles trennt
von Rebecca C. Schnyder

„Zwei für ein Ganzes“: Seit Renata von ihrem Mann verlassen wurde, zählen für sie nur noch der Alkohol und die Beziehung zu ihrem Kind. Um ihre Tochter Lina immer mehr an sich zu binden, zwingt Renata ihr deshalb ein rigides Ordnungssystem auf. Und so beschränkt sich Linas Leben auf die halbtätige Arbeit in der Fabrik, den wöchentlichen Einkauf und auf das Sortieren der zahlreichen Pfandflaschen. Allein ihre Fantasie – angeregt durch Werbeslogans aller Art, welche ihre Weltansicht und Kommunikation formen – verschafft kleine Ausflüchte aus der Struktur. Als eines Tages der Jurastudent Leo auftaucht, um eine Räumungsklage vorbeizubringen, droht die strikte Ordnung zwischen Mutter und Tochter jedoch zu bröckeln.

In kurzen, zarten Episoden entwickelt die Autorin ein zerstörerisches Spiel um Schuld und Sühne und eine berührende Geschichte, in der die Sehnsucht nach individueller Entfaltung Überhand gewinnt, bis der Bruch im „Ganzen“ nicht mehr zu kitten ist.

 

Spieldaten Alles trennt

(Bilder: Rebecca C. Schnyder)

Roman Rutishauser: Im musikalischen Container vor Anker gehen

Roman Rutishauser, Musiker und Kunst-Querdenker, begeistert sich für vieles: Für‘s künstlerische Mobil-Sein ebenso wie für‘s Agieren im öffentlichen Raum. Ausserdem liebt er das Wasser, was mit begründet, dass er seit ein paar Jahren auch ein Atelier in Venedig sein eigen nennt. Seit Mai ist er neuerdings in einem alten roten Hochsee-Container vor Anker gegangen. Und zwar im St. Galler Lattichquartier. Weiterlesen

Alex Hanimann: «Die Collage ist das eigentliche Prinzip unserer Zeit.»

Die NZZ schrieb einmal, er zähle mit seinem zeichnerischen Werk zu den wichtigsten Schweizer Künstlern der Gegenwart. Zudem hat er die Kunsthalle St. Gallen mitbegründet und war lange Mitglied in der eidgenössischen Kunstkommission. Bis heute unterrichtet er an der ZHdK und ist in Ausstellungen aktiv. Die Rede ist von Alex Hanimann. Trotz all des Ruhms sind ihm Starallüren erfreulich fremd, wie er im Gespräch in seinem St.Galler Atelier unter Beweis stellt.

Alex, über dich und dein Werk gibt es SO viel zu lesen. Daher soll hier gar nicht darüber geredet werden. Sondern vielleicht nur eine einzige Frage dazu: Gibt es eine Quintessenz, die konstant in deiner Arbeit auftaucht? Wahrscheinlich, dass ich mich nicht auf etwas festlege, sondern eher an Gegensätzen interessiert bin.

Welche Gegensätze? Zum Beispiel Ordnung und Chaos. Ich versuche permanent, Ordnung zu schaffen, damit Dinge verständlich werden. Gleichzeitig provoziere ich immer auch chaotische Situationen, bringe Sachen durcheinander, um so aus dem Ungeordneten heraus neue Bilder und Sichtweisen zu generieren. So pendelt das zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Bewährtem und Neuem hin und her.

No proof – no commentary – no double entendre, 2012, MAMCO, Genf

Dann gibt es also auch in deinem künstlerischen Ausdruck gegensätzliche Pole? Ja. Auf der einen Seite gibt es die abstrakte Welt der Sprache. Und auf der anderen die Bilder und Figuren, eine konkrete Welt, in der die Dinge im zwei- und dreidimensionalen Raum angesiedelt sind. In jedem Fall ist es das Stereotype und das Prototypische, das mich interessiert. Die Kunst gibt mir die Möglichkeit, Inhalte in Form von Modellen und Hypothesen zu untersuchen, um so Wahrheiten überprüfen und  bestätigen zu können oder aber Hypothesen zu behaupten.

„Lesen lohnt sich“ – Filzstift auf Transparent Papier, 30.5 x 45 cm

Du unterrichtest Studenten. Welche Eigenschaften, meinst du, helfen dir, Künstler und zugleich Lehrer für andere Kunstschaffende zu sein?  Ich bin ein neugieriger Mensch und interessiere mich immer auch dafür, was andere machen, weil ich davon lernen kann. Ich wechsle sozusagen die Perspektive und den Fokus. Das weitet den Blick, ist bereichernd und inspirierend. Gleichzeitig schafft der Blick auf das Andere, das Fremde, auch Distanz. Das hilft mir wiederum, meine eigenen Arbeiten zu relativieren, sie klar abzugrenzen, zu schärfen und zu präzisieren.

Im Ungeformten und Rohen die Stärken aufspüren

Trotzdem stelle ich es mir schwer vor, Studierende an der langen Leine zu lassen und ihnen keine eigenen künstlerischen Ideen aufdrücken zu wollen. Das stimmt natürlich. Einerseits versuche ich, die Studentinnen und Studenten in ihren eigenen, originellen Ideen zu unterstützen. Auf der anderen Seite, will ich aber auch meine ganz spezifischen, breiten und langjährigen Erfahrungen mit Kunst, mit dem Her- und Ausstellen von Kunst vermitteln. Das kommt einer Art Quadratur des Zirkels gleich.

Alex Hanimann – Sein Selfie hat er im Toni an der ZHdK aufgenommen.

Du selbst giltst als Konzeptkünstler. Objekte, Malereien, Zeichnungen, Texte: Dir scheint nichts fremd. Erwartest du von deinen Studierenden die gleiche Vielseitigkeit? Jede und jeder sollte versuchen, seine Stärken einzusetzen. Die Voraussetzungen und Talente können sehr unterschiedlich sein. Das aufzuspüren, herauszufinden, wie man sich am besten artikulieren kann, ist der Sinn jeder künstlerischen Ausbildung. Gerade bei jungen Menschen ist ja vieles noch roh und ungeformt. Es ist schon da, aber es ist noch nicht wirklich sichtbar. So gilt es einerseits, im Unterricht, in der Ausbildung, breit zu experimentieren; andererseits auch zu fokussieren. Wie weit das gelingt, hängt einerseits von der Offenheit und Unvoreingenommenheit des Lehrers ab und gelingt andererseits nur mit  klaren Stellungnahmen, dem präzisen Einmischen und in Frage stellen.

Die Umgangsformen mit Kulturgut wandeln sich

Was mich zum Schluss noch interessieren würde: Du hast schon immer mit fremden Bildvorlagen gearbeitet, diese weiter verwertet – böse gesagt: geklaut.  Wie gehst du selbst damit um, wenn jemand deine Werke adaptiert und damit arbeitet? Ich habe kein Problem, wenn jemand meine Arbeiten weiterverwendet. Ich denke, es liegt im Wesen unserer Zeit, dass Dinge vermischt werden. Die breite Verfügbarkeit von Wissen, von Bildern und Sprache soll meiner Meinung nach genutzt werden können. Die Autorin, der Autor, verschwindet so teilweise in einer kollektiven Autorschaft. Sharing und Recycling bilden eine Art Fundament unserer Zeit. So ist nur logisch, dass man fremde Dinge benutzt, adaptiert und transformiert. Die Collage ist das eigentliche Prinzip unserer Zeit. Klar muss man gewisse Dinge respektieren. Grundsätzlich meine ich, dass es beim Benutzen der Dinge entweder irgendeine Veränderung oder eine erkennbare Manipulation braucht. Oder aber, man legt offen, woher eine Quelle stammt. Es geht nicht, 1:1 eine Formulierung zu übernehmen und diese als die eigene auszugeben. Das muss man wissen, ernst nehmen und auch akzeptieren. Aber die Umgangsformen mit Kulturgut wandeln sich eben.

 

(Bilder: (c) Alex Hanimann)

 

 

Wortlaut 2017: Neue Textformen «entdeckbar» machen

Ab kommenden Donnerstag ist es wieder so weit: Das Literaturfestival «Wortlaut» geht erneut über die Bühne. Seit seiner ersten Auflage vor neun Jahren, hat es sich zu einem der kulturellen Highlight des St. Galler Jahres oder überhaupt der Region gemausert. Rebecca C. Schnyder, die sich selbst als Programm-Koordinatorin bei «Wortlaut» bezeichnet, erklärte mir bei Kaffee und Limo was «Wortlaut»  so besonders macht – und auch, was man unter einem «Zeichenduell» zu verstehen hat.

«Wortlaut» ist momentan wieder in aller Munde? Aber wieso eigentlich? Unser Programm ist – auch im Vergleich zu anderen Literaturfestivals–  toll positioniert: Wir bieten eine ausgesprochene Vielfalt. Kaum ein anderes Literaturfestival bringt vergleichbares. Bei uns gibt es altvertraute Textformen, aber auch solche, die erst in den letzten Jahren so richtig zum Durchbruch kamen wie etwa Graphic  Novels oder Spoken Word.

Literatur lebendig transportieren

Klingt ein bisschen danach, als sei «Wortlaut» ein Festival, das nicht für Otto-Normal-Verbraucher, sondern für Literatur-Experten ist. Das stimmt nicht. Bei uns ist nichts «literarisch-elitär» oder abgehoben. Es ist eher umgekehrt so, dass bei  «Wortlaut»  Literatur lebendig und erlebbar transportiert wird. Dabei versuchen wir schon «Sichtbar-Macher» neuer Textformen zu sein und eine Bühne für neue Arten des literarischen Arbeitens zu öffnen. Aber das richtet sich auch klar an Leute, die keineswegs Literaturkenner sind.

Rebecca C. Schnyder beim Gespräch im Kaffeehaus St. Gallen

Wie kommt bei euch das Programm zustande? Habt ihr Bewerber, die ihr berücksichtigt oder geht ihr gezielt auf Schreibende zu? Wir gehen auf die Schreibenden zu. «Wortlaut» ist in vier Reihen aufgebaut und für jede ist ein Literaturspezialist zuständig, der sich das Reihen-Programm überlegt. Alle Ideen werden im Team abgestimmt und fixiert. Im Anschluss versuchen wir dann, die entsprechenden Autorinnen und Autoren an Land zu ziehen. Dabei ist unsere Auswahl klar deutschsprachig ausgerichtet. Und natürlich achten wir darauf, Ostschweizer Schreibende einzubeziehen.

Versteht ihr «Wortlaut»  primär als kulturelles Spass-Event? Oder habt ihr auch etwas wie einen Bildungsanspruch für die Bevölkerung im Kopf? Oh je, was für eine Frage!! Ich würde mal so sagen:  Wir laden Leuten ein, Literatur niederschwellig zu entdecken. Eine Tour Literaire zu unternehmen. Deswegen gibt es bei uns auch ganz verschiedene Ticket-Formate.  Mit dem Samstags-Tages-Pass bekommt man beispielsweise für 40 Franken Zutritt zu 18 total verschiedenen Veranstaltungen. Nennt man sowas ein «Bildungsangebot»? Vielleicht (lacht).

Und zum Schluss: Gibt’s was am diesjährigen «Wortlaut», das so noch nie da war? Beispielsweise das «Zeichenduell». Da treten zwei gegeneinander an und zeichnen. Wer sich nun wundert, was das mit Literatur zu tun hat, dem kann man sagen: Die Übertragung einer Geschichte in Gezeichnetes ist literarisches Arbeiten. Und daher findet sowas bei uns seinen Platz.

Vielen Dank an Rebecca C. Schnyder für die anregenden Inputs!

 

Lust auf mehr «Wortlaut»? Dann geht’s hier zur ausführlichen Informationen: Daten, Tickets und Programm.

Und wer mehr über Rebecca C. Schnyder selbst erfahren möchte, kann sich auf ihrer Website schlau machen.

 

 

Stoffe können Geschichten erzählen

Wenn Barbara Karl von chinesischen Textilien und „Reisenden Mustern“ spricht, dann klingt das nach Abenteuer und fremden Ländern. Dabei ist sie keineswegs Geschichtenerzählerin, sondern die neue Leiterin der Sammlung im Textilmuseum von St.Gallen. Seit 15. Januar ist die international renommierte Textilexpertin dort am Start. In der Lounge des Museums lüftet sie etwas den Schleier von ihrer Person.

Frau Karl, Sie haben ursprünglich Kunstgeschichte und Sprachen studiert. Doch heute sind sie Expertin für Textilien. War Ihnen das Interesse für Stoffe in die Wiege gelegt? Tatsächlich hatte ich schon in meiner Jugend Kontakt zu alten Textilien. In meinem Umkreis schwirrte das ein bisschen herum: Alte Kleider und Stoffe, ein paar Hüte, auch exotischeres…das hat mich wohl offen für dieses Thema gemacht. Aber zur richtigen Textilhistorikerin bin ich durch eine Verkettung von Zufällen und aktivem Suchen geworden.

Was für Zufälle waren das?  Ich habe schon immer gerne historische Bücher gelesen und mich dafür interessiert, wie unterschiedliche Sachverhalte zusammenhängen, Netzwerke funktionieren. Als ich ein Semester in Lissabon studierte, entdeckte ich für mich Textilien, die im 16. und 17. Jh. in Indien für den portugiesischen Markt produziert wurden. Das Thema beschäftigte mich über  Jahre hinweg. Ich schrieb darüber schliesslich sogar meine Doktorarbeit.

Blick in die Bibliothek des Textilmuseums St.Gallen

Mit Doktor-Titel bleibt man oft an einer Universität. Wie ging’s bei Ihnen weiter? Ich bin weg von der Uni, weg vom Textil und habe mich der Sammlungsgeschichte zugewandt. Im Rahmen eines Forschungsprojekts war ich in Italien und habe mich mit den Medici und später – zurück in Wien – den Habsburgern befasst. Konkret ging‘s darum, welche Objekte aus der islamischen Welt diese gesammelt haben und wie man islamische Kunst im Laufe der Jahrhunderte wahrnahm… 2010 kam die Möglichkeit als Kuratorin ans Museum für angewandte Kunst (MAK) nach Wien zu wechseln. Ab diesem Zeitpunkt war ich wieder mit Textilien in engem Kontakt.

Nun haben Sie beschlossen, von der Weltstadt Wien ins beschauliche St.Gallen umzusiedeln. Wieso? Das MAK ist ein grosses Haus mit vielen Sammlungsbereichen. An St. Gallen reizt mich, dass die hiesige Sammlung auf Textil allein spezialisiert ist und ich ganz darin eintauchen kann.

Stoffe, die 4000 Jahre alt sind

Welche Besonderheiten bietet die hiesige Sammlung? Auf was genau wollen Sie sich einlassen?  Die Sammlung ist sehr vielseitig, qualitativ hochwertig. Ein grosser und wichtiger Teil widmet sich der Ostschweizer Produktion der vergangenen Jahrhunderte. Es gibt aber auch spätantike, präkolumbianische und chinesische Textilien. Neulich stiess ich auf ein Objekt aus dem Ägypten des 3. Jahrtausends vor Christus. Unglaublich! Aber der grösste Teil unserer Sammlungsartefakte stammt aus Europa.

Sie sind nun knapp einen Monat hier. Erste Projekte und Ideen nehmen unter Ihrer Leitung Gestalt an. Verraten Sie hierzu etwas mehr? Zunächst werde ich eine Ausstellung über „Spitzen“ kuratieren. Wr haben hier eine einzigartige Sammlung und das Thema ist faszinierend in all seinen Facetten. Sie werden sehen… Des Weiteren interessiert uns hier die Geschichte des Museums von seinem Ursprung als Mustersammlung bis heute.

Barbara Karl mit einem Musterbuch aus der sog. „Mustersammlung“

„Mustersammlung“? Wie ist das zu verstehen? Das Textilmuseum wurde 1878 als „Mustersammlung“ gegründet. Mit dem Zusammentragen von Mustern aus aller Welt sollte die heimische Textilindustrie gefördert werden. Entwerfer etwa konnten sich an den gesammelten historischen und zeitgenössischen Designs inspirieren – und tun das noch heute! Zudem wurden Musterbücher gesammelt. In diesen Büchern gibt es kleine Stoffstücke unterschiedlicher Formate.  Meistens wurden sie ursprünglich in textilproduzierenden Betrieben als Arbeitsmaterial verwendet.

War sowas wirklich notwendig und nicht nur nette Spielerei? Und ob! Reisende textile Muster waren wichtige Vermittler von Informationen und als solche mit ausschlaggebend für den Erfolg, resp. die Produktion von Textilien in Europa, spätestens seit dem 12./13. Jahrhundert. Wie wichtig diese Muster als Vorlagen waren, zeigt allein die Gründung des Textilmuseums.

Herzlichen Dank an Frau Dr. Karl für das interessante Gespräch!

Mehr Wissen gewünscht? Dann einfach klicken: Textilmuseum und zur aktuellen Ausstellung Fast Fashion 

 

(Bilder: Mit freundlicher Genehmigung Textilmuseum St. Gallen)

 

ROTES VELO: Tanzen ist wie Fahrradfahren!

Die freie zeitgenössische Tanzszene fördern! Eigenwillige Ideen umsetzen! Mit solchen und anderen Gedanken im Kopf gründeten Hella Immler und Exequiel Barreras im Jahr 2011 ihr „Rotes Velo“. Sie setzten damit eine der ersten freischaffenden Tanzkompanien in St.Gallen in die Welt. Mit der Produktion „Alles Gueti“ feiern sie Ende Januar in der St.Galler Grabenhalle nun ihr fünfjähriges Bestehen. Bei Tee und Karottensaft  haben sie verraten, was Tanzen mit Velo-Fahren zu tun hat und wohin die Reise noch gehen soll…

Als erstes bin ich natürlich neugierig wegen des Namens: „Rotes Velo“. Was – bitteschön – hat Tanzen mit Velo-Fahren zu tun?

Exequiel Barreras: Wir wollten bei der Namenswahl für unsere neue Company keine Verbindung zum menschlichen Körper. Nichts mit „Body“, „Dance“ und so weiter. Aber wir wollten etwas, das Bewegung signalisiert. Da passte „Velo“ sehr gut. Ich selbst komme ursprünglich aus Argentinien, wo Radfahren eher unüblich ist. Das „Velo“ habe ich erst in Europa für mich entdeckt – und es schnell lieben gelernt, weil man sich so frei damit bewegen und so schnell vorankommen kann.

Hella Immler: Ausserdem hat uns ein Zitat von Albert Einstein gut gefallen: „Das Leben ist wie Fahrrad fahren. Um die Balance zu halten, musst du in Bewegung bleiben“. Das ist für uns ein wichtiger Gedanke bei dem, wie wir arbeiten.

Gemeinsam mit einem Dritten im Bunde, Emilio Díaz Abregú, leitet ihr eure Company. Wir verteilt ihr die Aufgaben? Habt ihr eine Stammbesetzung?

Hella Immler: Unser „Rotes Velo“ wird von vielen gefahren. Bislang haben im Wechsel 50 verschiedene Künstler aus 14 unterschiedlichen Ländern mitgewirkt. Daneben haben wir eine grosse Zahl privater Helfer, ohne die es nicht ginge. Und was die Leitung des „Velos“ durch uns drei angeht: Da ist es so, dass mal der eine lenkt, der andere tritt und der dritte sitzt hinten drauf. Und dann wird getauscht und der Lenker übernimmt zum Beispiel das Treten. Wir haben eine abwechslungsreiche Dynamik in unserem Tun.

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Impression I zu „Alles Gueti“

Exequiel Barreras: Tatsächlich ist es sogar so, dass wir eigentlich ein „Dach“ anbieten, das  dann verschiedenen Künstlern Raum gibt, Sachen auszuprobieren. Da muss nicht mal zwangsläufig jemand von uns die Leitung haben.

Heisst das, ihr seid mit freiem inhaltlichem Konzept unterwegs? Oder gibt es sowas wie einen roten Faden, der euch begeistert und von euch verfolgt wird?

Exequiel Barreras: Seit rund zwei  Jahren wird immer wichtiger, uns Richtung Mensch zu öffnen. Es gilt nicht länger: Hier die Company, da das Publikum – hier der junge Tänzer, da der alte Zuschauer. Wir fragen immer öfter: Was bedeutet Show, was ist Bühne!?

Hella Immler: Das führt dazu, dass wir nicht mehr nur mit Profis arbeiten, sondern auch Amateure einbinden. Für „Alles Gueti“ haben wir Laien dazu geholt. Und noch mehr: Wir haben auch vier Generationen auf der Bühne. Unser jüngster Mitwirkender ist 4, der älteste 80.

Oh, das klingt nach einem Wagnis!

Exequiel Barreras: Das ist es auch. Aber wir wollen es so. Wir trauen uns, das was auch mal nicht perfekt rauskommt. Warum muss auf der Bühne denn immer nur Perfektion stattfinden?! Wir lernen doch vor allem von Personen, die sich noch in einem Prozess befinden. Und das bedeutet dann eben auch, dass darin noch „Fehler“ vorkommen. Wir finden das spannend. Und wir können uns das auch erlauben. Sowas geht natürlich bei einer Produktion in einem Stadttheater nicht.

Wie habt ihr denn den Inhalt zur  „Alles Gueti“ entwickelt? Und worum geht‘s?

Hella Immler: Am Anfang der Produktion haben wir allen, die mitmachen, einen Fragebogen zum Thema Geburtstag gegeben. Aus den Inhalten daraus haben wir dann „Geschichtensplitter“ kreiert. Es geht um Geburtstage, Jahre, Wünsche, Geburt… Die Bühne symbolisiert den „Geburtstagstisch“, wo gefeiert wird. Und das Publikum ist eingeladen, mitzufeiern.

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Impression II zu „Alles Gueti“

Fünf Jahre „Rotes Velo“: Welchen persönlichen Geburtstagswunsch habt ihr für euer „Baby“?

Hella Immler: Für den Moment hat unser „Velo“ gut an Fahrt gewonnen und es wird weiter seinen Weg nehmen. Wohin, das weiss man nicht genau. Ich würde mir wünschen, dass es nicht regional bleibt, sondern auch weiter überregional geht.  Ich freue mich bereits auf neue Begegnungen, andere Produktionen und darauf, auch mit anderen Companies Kooperationen anzustossen.

Exequiel Barreras: Ich bin superglücklich, wo wir im Moment angekommen sind. Mein Traum wäre, dass ich irgendwann mein gesamtes Engagement ins „Rote Velo“ stecken kann. Ich habe immer weniger Ambitionen in Richtung Kunst-Business. Dafür interessiert mich zunehmend die soziale Komponente der Kunst: Ich möchte was für Menschen machen und nah an ihnen dran sein.

DANKE euch, für das tolle Gespräch!

 

Mehr Infos über „Rotes Velo“ finden sich unter www.rotesvelo.ch und in diesem Überblick

(Bilder: (c) „Rotes Velo“, 2017)

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Freie zeitgenössische Tanzszene: 2011 haben Hella Immler und Exequiel Barreras  die ROTES VELO Tanzkompanie gegründet. Für ihre 4-Generationen-Produktion „Alles Gueti“ bekamen sie den Werkbeitrag der Stadt St. Gallen. Und mit eben dieser feierten sie nun am 29. und 31. Januar 2017 das mittlerweile fünfjährige Bestehen ihrer Kompanie. Am ersten Abend war ich dabei. Ein Kommentar…

Gelächter, laute Musik, wirbelnde, hüpfende, tanzende Körper… Es ist ein fulminantes Fest, das da auf der Bühne der Grabenhalle stattfindet, während die Besucher den Saal betreten und auf den Beginn der Schau warten. Irgendwann hat auch der letzte Gast Platz genommen. Es geht los.

Es ist schwer, in Wort zu fassen, was nun in den nächsten ein, zwei Stunden passiert. Denn Exequiel Barreras, der künstlerische Leiter von ROTES VELO, serviert den Zuschauern in dieser Tanz-Theater-Performance ein Mosaik an Eindrücken oder besser: Geschichten-Splittern. Die kommen ganz unterschiedlich daher. In Bewegungen, Mimik, Sprache, Musik. Mal ganz schrill, mal ganz still.

Nehmen wir nur ein Beispiel: Die Geschichte des Mannes, der nicht mehr jung ist. Er tänzelt auf die Bühne und berichtet von Verlusten, die das Leben ihm beschert hat: Haare hat er eingebüsst, auch fast alle Libido. Dafür hat er Lachen hinzugewonnen. Als Zuschauer schmunzelt man und findet das alles recht lustig. Bis dieser letzte Satz kommt, fast nebenbei: „Und die Stimme meines Vaters, wie war die nochmal?“ Da schnürt es einem die Kehle zu. Denn solch Verlust, der wiegt doch anders. Eine Stimme, die vielleicht zeitlebens nur tadelte – oder immer Trost und Rat spendete, wird nicht mehr erinnert. Ist unwiederbringlich verloren. Was geschieht da mit mir?

Viele solcher Geschichten werden in „Alles Gueti“ erzählt. Einige werden getanzt, andere gesungen. Mal bordet die Bühne fast über vor Leibern. Dann wieder ist sie fast menschenleer. Es gibt Geschichten, die den grossen Fragen zu Liebe, Nähe, Hoffnung oder Einsamkeit nachspüren. Und es gibt Geschichten, die von kostbaren kleinen Momenten berichten und dazu anhalten, diese einzufangen. Einige Geschichten erschliessen sich dem Zuschauer leicht. Andere bleiben eher ein Rätsel und fordern den Zuschauer heraus, mehr als zahlender Konsument einer Bühnen-Show zu sein. Verstehen-Wollen, Hintersinnen ist gefragt. Doch selbst dann entschlüsselt sich vielleicht nicht jede Sequenz, bleiben Dinge unklar. Das darf auch so sein. Denn bei „Alles Gueti“ geht es stark darum, Gefühle auszulösen und die eigenen Empfindungen gelten zu lassen. Diese Rechnung geht auf.

Das liegt gewiss daran, dass man sich der Laien-Mitwirkenden bewusst ist, hier und da deren Unsicherheiten spürt. Aber gerade das macht die einzelnen Sequenzen so authentisch und berührend. Denn immer wieder fragt man sich: Ist diese Geschichte echt – oder doch nur reinste Fiktion?

Unterm Strich hat Barreras mit seinem Ensemble aus insgesamt 18 Profis und Laien „Alles Gueti“ für die Zuschauer zu etwas wie einer Geburtstagstorte gemacht: Eine wunderbare Gabe, die in unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen den wirklich grossen Themen des menschlichen Zusammenlebens nachforscht. Und die sich in viele Einzelstücke teilen lässt, mit dem Angebot an jeden Zuschauer, das besondere Stückchen auszuwählen, das ihm persönlich am meisten zusagt.

Appenzeller Vielfalt durch Austausch mit der Welt

Im Gespräch mit Heidi Eisenhut.

Ihre Augen blitzen, wenn sie Worte wie „Psychosophische Gesellschaft“, „Kulturtransfer“ oder „kollektives Gedächtnis“ in den Mund nimmt. Ich bin gespannt auf mehr. Denn Heidi Eisenhut kann viel und mitreissend erzählen. Seit zehn Jahren leitet die promovierte Historikerin die Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden. Wie vielseitig das ist und was sie sonst noch begeistert, erzählt sie hier …

Heidi, du sagst, du seist ein Kind der Appenzeller Hügel. Aber während Ausbildung und Studium warst du doch in Paris und Zürich. Wieso hat‘s dich wieder zurückgezogen? Ich mag diese Landschaft. Während meines Studiums war ich immer auch hier; der Liebe wegen und als Mitglied im Vorstand des Heimatschutzes und in der kantonalen Kommission für Denkmalpflege. Was mich an meiner Arbeit hier so fasziniert, ist, dass der Raum geografisch zwar klein ist und in der Peripherie liegt. Aber er ist so reichhaltig, dass sich am Beispiel des lokalen kulturellen Erbes fast alle Themen in einen grösseren Kontext stellen lassen.

Was genau meinst du damit? Das Leben – die Orte, an denen wir uns aufhalten, unsere Begegnungen, Erlebnisse, Erfahrungen – besteht aus Geschichten. Und diese Geschichten teilen wir mit anderen Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ausserdem teilen wir sie je nach individueller Ausprägung auch mit Menschen anderer Kulturen und Mentalitäten. In der Kantonsbibliothek sind wir einerseits für Bücher zuständig, in denen solche Geschichten mit Bezug zu unserem geografischen Raum dokumentiert sind. Wir beherbergen überdies Vor- und Nachlässe von besonderen Menschen und Vereinigungen, die den Kanton geprägt haben und prägen. Das sind zum Beispiel Kunstschaffende, aber auch Familien wie die Textilhandelsfamilie Zellweger aus Trogen. Diese ganz unterschiedlichen Dinge anzuschauen, ihre Verbindungen zueinander und zu uns Heutigen aufzudecken, das ist wunderbar. So erfahren wir immer mehr über unseren Kanton und können das dann weitererzählen.

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Heidi Eisenhut gibt Einblick, auf welche Weise der Zellweger-Nachlass in Trogen präsentiert wird.

Du und dein Team arbeiten also nicht im „stillen Kämmerlein“? Keinesfalls. Wir haben einen ganz klaren Vermittlungsauftrag. Wichtig ist uns, dass hier nichts Elitäres passiert. Sondern dass es uns gelingt, in der Öffentlichkeit die Vielfalt unseres Kantons sichtbar zu machen. Wir wünschen uns, dass sich die Menschen hier mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen. Ich persönlich versuche deswegen auch, Themen, die diese Vielfalt und manchmal auch Unerwartetes und Staunenswertes aufzeigen, an die Öffentlichkeit zu tragen. Gerade in der heutigen Zeit scheint es mir wichtig, den Menschen weiterzugeben, dass früher nicht alles besser war. Immer schon haben sich die Welt und die Lebensumstände verändert. Und auf offene Fragen gab, gibt und wird es immer Antworten geben.

Kulturtransfer hat das Appenzellerland geprägt

Als Historikerin liegt dir die Vergangenheit also besonders am Herzen? Das ist falsch formuliert. Wer die Vergangenheit kennt und versteht, kann sich auch auf die Gegenwart besser einlassen und in ihr agieren. Das Appenzellerland, das wir heute kennen und dessen Stärken wir loben, hat sein Profil nur dank eines Kulturtransfers erhalten, der im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine Blütezeit erlebte. In Appenzell Ausserrhoden prägte der Fernhandel den Austausch. Und auch der Tourismus: Menschen kamen und gingen; Einflüsse aus ganz Europa, ja aus der ganzen Welt fanden hier ihren Niederschlag. Und nicht zu vergessen: Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Schweiz ein Auswanderungsland … Andersherum war die Gegend hier aber auch immer schon Rückzugsort für Personen, die als besondere Gruppierungen in relativer Abgeschiedenheit leben und eigenen, besonderen Lebensformen ungestört nachgehen wollten und wollen.

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Ebenfalls Kulturtransfer: Kulturelles Erbe von gestern – fürs Heute sichtbar gemacht

Gibt es da ein konkretes Beispiel? Ja. Die Psychosophische Gesellschaft mit Sitz in Stein AR fällt mir da spontan ein. Deren Kern bestand aus wenigen Personen: einem Guru namens Hermann J. Metzger und drei bis zeitweise vier Frauen. Diese Menschen haben sich nach 1945 zusammengetan. Sie beriefen sich zu ihrer Blütezeit in den 1960er Jahren auf Aleister Crowley. Das war ein britischer Okkultist, der in Italien die Abtei Thelema führte. In Stein gründeten sie eine Abtei gleichen Namens und hielten dort u.a. gnostisch-katholische Messen ab. Sie betrieben ein Labor für Heilmittel, eine Wetterstation, eine Druckerei mit eigenem Verlag und Publikationen und führten einen Hotelbetrieb. In den 1970er Jahren wurde ihre Vereinigung mit dem Mord an der US-Schauspielerin Sharon Tate in Verbindung gebracht. Man warf ihnen sexual-magische Praktiken und Satansmessen vor.

Und wie ist diese Psychosophische Gesellschaft mit der Kantonsbibliothek verbunden? Die Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden hat 2009 den Nachlass der Psychosophischen Gesellschaft unter dem Namen „Collectio Magica et Occulta“ übernommen. Konkret handelt es sich dabei um eine Bibliothek mit 10’000 Titeln sowie ein umfassendes Archiv. Anfang November 2016 hat die Historikerin Iris Blum in unserem Auftrag unter dem Titel „Mächtig geheim“ ein Buch zur Psychosophischen Gesellschaft und deren Geschichte veröffentlicht.

Puh, bei euch ist ja wirklich viel los! Es wird nie langweilig! Und das gefällt mir. Ich habe noch viele Pläne. Bei uns gibt es zahlreiche interessante Themen, manchmal fast zu viel … Aufgrund unserer Grösse – oder wenn man so will „Kleine“ – haben wir die Chance, in Kooperation mit Menschen und Institutionen verschiedener Herkunft Projekte ganz unterschiedlichen Charakters zu realisieren.

 

Herzlichen Dank an Heidi Eisenhut für die spannenden Einblicke!

 

Mehr Infos zur Psychosophischen Gesellschaft gibt’s übrigens in der aktuellen November-Ausgabe des SAITEN-Magazins.

Weiteren interessanten Input findet man auf SRF , auf der Website der Kantonsbibliothek sowie bei diesen Hinweisen zur Familie Zellweger

Bernard Tagwerker: „Bald zeichne ich mit Laser…“

Kürzlich hat der Künstler Bernard Tagwerker den Grafikpreis 2016 der Peter-Kneubühler-Stiftung erhalten. Vor zwei Jahre bekam er schon den Kulturpreis der Stadt St. Gallen. Und die Liste der Auszeichnungen liesse sich fortsetzen. Denn Tagwerker gehört zu den Grossen in Sachen bildender Kunst, weit über die Grenzen der Ostschweiz hinaus. Logisch war ich gespannt, als ich den früheren Präsidenten der visarte.schweiz in seinem Atelier besuchen und über sein Künstlerleben ausquetschen durfte…..

Künstler werden wollte er schon 1955, erzählt Bernard Tagwerker. Damals war er 13 Jahre alt und lebte mit seinen Eltern, die sich so sehr einen „gescheiten Beruf“ für ihren Sohn gewünscht hätten, im appenzellischen Heiden. Trotzdem unterstützen sie ihren Bub bei seinem Wunsch… und so nahm das Künstlerdasein von Bernard seinen Lauf. Eigentlich war geplant, dass er mir Punkt für Punkt davon erzählt. Aber dann wurde die Unterhaltung so wunderbar bunt, dass es hier nun eine Auswahl von Gesprächssplittern gibt. Zu folgenden Themen…

 … Ausbildung

„Ein Heidener Grafiker – Ruedi  Peter – hat meinen Vater angeregt, ich solle doch die Kunstgewerbeschule absolvieren. Ich ging also zur Aufnahmeprüfung  – und wurde nicht angenommen. Das war ein Schock. Nach zirka einer Woche habe ich mir gesagt, die verstehen einfach nicht,  was ich will. Selbstbewusst und überheblich war ich da. Danach bin ich in St.Gallen zur Textil- und Modeschule. Aber da waren die Aufnahmeprüfungen auch schon durch. Man vertröstete mich auf die Prüfungen im nächsten Jahr. Wieder ein Schock. Da haben die wohl gemerkt, wie enttäuscht ich war und liessen mich aufgrund meiner Mappe ohne Prüfung zu. So kam ich zu einer „anständigen Ausbildung“ – aber ich habe keinen Tag meines Lebens in diesem Beruf  gearbeitet.“

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Bernard Tagwerker in seinem Atelier (Bild: Stefan Rohner)

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„Nach der Ausbildung zum Textilentwerfer bin ich nach München gegangen, mit der Idee, vielleicht dort die Kunstakademie zu besuchen. Da ist mal halt als Schweizer Künstler hin. Denn bei uns gab es ja keine Hochschulen oder Akademien Anfang der 60er. Aber aus München bin ich nach drei Monaten wieder weg. Das war mir viel zu traditionell. Man sollte dort nur „üben“. Kreativ sein, zeitgenössische Entwicklungen verarbeiten… das war nicht gefragt. Ein französischer Student, den ich in München kennen lernte, lud mich dann nach Paris ein. Und so kam ich in die französische Hauptstadt. Ich habe bei meinem Bekannten auf dem Boden geschlafen, weil sein Zimmer so eng war und ich kein Geld hatte, um irgendwo Miete bezahlen zu können. Das war schon eine Erfahrung…

In Paris bin ich dann auf die Académie de la Grande Chaumière, eine Kunstakademie am Montparnasse, die es auch heute noch gibt. Speziell war und ist, dass das eine offene Kunstschule ist, ohne mehrjährige Aufbaukurse. Man konnte sich für Wochen, Tage oder auch nur stundenweise einschreiben, um dann mit oder ohne Korrekturen einer Lehrkraft zu skizzieren. Nach eineinhalb Jahren hatte ich kein Geld mehr und ging fürs erste zurück in die Schweiz.“

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(c) Bernard Tagwerker

… Geldverdienen

„Zurück aus Paris, verdiente ich mir in der Schweiz mein Geld als Tankstellenwart. Bei meinem zweiten Parisaufenthalt (1964-67) bekam ich durch eine glückliche Fügung einen Halbtags-Job in der Druckerei des Verlegerpaars Maeght. Dort wurde auch die Künstler-Edition Derrière le miroir (DLM) realisiert. Ich durfte daran mitwirken und lernte so viele sehr bekannte Künstler, wie etwa Miro, Calder, Riopelle und auch Giacometti kennen. Sie liessen ihre Lithografien dort drucken. Ausserdem kam ich so halbwegs über die Runden. Erst im Alter von 55 Jahren konnte ich von meiner Kunst soweit leben, dass ich ohne Nebenjobs auskam.“

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„1967 ging ich wieder nach St.Gallen zurück, schon mit dem Wunsch im Kopf, irgendwann auch mal in New York zu leben und zu arbeiten. Diesen Wunsch erfüllte ich mir 1976. Ich bin rüber, mit nichts als einem Touristenvisum in der Tasche und hatte ausser Flug und Hotel nichts weiter gebucht.  Glücklicherweise hatte ich aber Kontakt zum Schweizer Künstler Pierre Haubensak, der zu dieser Zeit auch in NY lebte. Er bot mir an, sein Atelier zu nutzen…. und so ergab irgendwie eines das andere. Ich blieb schliesslich bis 1986 in NYC und war in dieser Zeit nur ein einziges Mal in der Schweiz. Es waren spannende Jahre. Ich habe gesehen, wie schnell und radikal sich diese Stadt verändert. SoHo hat sich aus dem Nichts zum angesagten Künstlerviertel entwickelt, in dem sich dann unter anderem die „Stars“ aus der Kunst- und Experimentalfilm-Szene trafen. … wenn auch nur bis zirka 1980. Dann verlagerte sich die Szene. Als ich 1986 tatsächlich und dauerhaft in die Schweiz zurückkehrte, war das schon sehr eigenartig.“

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(c) Bernard Tagwerker

… Gestalterisches

„In meiner Kunst spielt der Zufall eine grosse gestalterische Rolle. Mit ihm arbeite ich, um die Gefahr von Wiederholungen oder Routine einzudämmen. Wenn ich das Gefühl habe, ich weiss, was heraus kommt, dann gehe ich weiter zu etwas anderem. Aktuell arbeite ich daran, Zeichnungen mit dem Laser zu realisieren. Das ist eine sehr elegante Art des Zeichnens, da es berührungslos geschieht. Ich bin gespannt, wie sich dieses Projekt entwickelt.“

Ein herzliches Dankeschön an Bernard Tagwerker, dass er sich die Zeit für dieses Gespräch mit mir genommen hat!!!

Und wer mehr über ihn wissen will, wird hier fündig:

Beitrag SRF , Lexikon SIKART oder in diesem Magazin-Beitrag

 

BILDER 
Werkabbildungen: Bernard Tagwerker
Bild Bernard Tagwerker: Stefan Rohner – hier seine Website