Stoffe können Geschichten erzählen

Wenn Barbara Karl von chinesischen Textilien und „Reisenden Mustern“ spricht, dann klingt das nach Abenteuer und fremden Ländern. Dabei ist sie keineswegs Geschichtenerzählerin, sondern die neue Leiterin der Sammlung im Textilmuseum von St.Gallen. Seit 15. Januar ist die international renommierte Textilexpertin dort am Start. In der Lounge des Museums lüftet sie etwas den Schleier von ihrer Person.

Frau Karl, Sie haben ursprünglich Kunstgeschichte und Sprachen studiert. Doch heute sind sie Expertin für Textilien. War Ihnen das Interesse für Stoffe in die Wiege gelegt? Tatsächlich hatte ich schon in meiner Jugend Kontakt zu alten Textilien. In meinem Umkreis schwirrte das ein bisschen herum: Alte Kleider und Stoffe, ein paar Hüte, auch exotischeres…das hat mich wohl offen für dieses Thema gemacht. Aber zur richtigen Textilhistorikerin bin ich durch eine Verkettung von Zufällen und aktivem Suchen geworden.

Was für Zufälle waren das?  Ich habe schon immer gerne historische Bücher gelesen und mich dafür interessiert, wie unterschiedliche Sachverhalte zusammenhängen, Netzwerke funktionieren. Als ich ein Semester in Lissabon studierte, entdeckte ich für mich Textilien, die im 16. und 17. Jh. in Indien für den portugiesischen Markt produziert wurden. Das Thema beschäftigte mich über  Jahre hinweg. Ich schrieb darüber schliesslich sogar meine Doktorarbeit.

Blick in die Bibliothek des Textilmuseums St.Gallen

Mit Doktor-Titel bleibt man oft an einer Universität. Wie ging’s bei Ihnen weiter? Ich bin weg von der Uni, weg vom Textil und habe mich der Sammlungsgeschichte zugewandt. Im Rahmen eines Forschungsprojekts war ich in Italien und habe mich mit den Medici und später – zurück in Wien – den Habsburgern befasst. Konkret ging‘s darum, welche Objekte aus der islamischen Welt diese gesammelt haben und wie man islamische Kunst im Laufe der Jahrhunderte wahrnahm… 2010 kam die Möglichkeit als Kuratorin ans Museum für angewandte Kunst (MAK) nach Wien zu wechseln. Ab diesem Zeitpunkt war ich wieder mit Textilien in engem Kontakt.

Nun haben Sie beschlossen, von der Weltstadt Wien ins beschauliche St.Gallen umzusiedeln. Wieso? Das MAK ist ein grosses Haus mit vielen Sammlungsbereichen. An St. Gallen reizt mich, dass die hiesige Sammlung auf Textil allein spezialisiert ist und ich ganz darin eintauchen kann.

Stoffe, die 4000 Jahre alt sind

Welche Besonderheiten bietet die hiesige Sammlung? Auf was genau wollen Sie sich einlassen?  Die Sammlung ist sehr vielseitig, qualitativ hochwertig. Ein grosser und wichtiger Teil widmet sich der Ostschweizer Produktion der vergangenen Jahrhunderte. Es gibt aber auch spätantike, präkolumbianische und chinesische Textilien. Neulich stiess ich auf ein Objekt aus dem Ägypten des 3. Jahrtausends vor Christus. Unglaublich! Aber der grösste Teil unserer Sammlungsartefakte stammt aus Europa.

Sie sind nun knapp einen Monat hier. Erste Projekte und Ideen nehmen unter Ihrer Leitung Gestalt an. Verraten Sie hierzu etwas mehr? Zunächst werde ich eine Ausstellung über „Spitzen“ kuratieren. Wr haben hier eine einzigartige Sammlung und das Thema ist faszinierend in all seinen Facetten. Sie werden sehen… Des Weiteren interessiert uns hier die Geschichte des Museums von seinem Ursprung als Mustersammlung bis heute.

Barbara Karl mit einem Musterbuch aus der sog. „Mustersammlung“

„Mustersammlung“? Wie ist das zu verstehen? Das Textilmuseum wurde 1878 als „Mustersammlung“ gegründet. Mit dem Zusammentragen von Mustern aus aller Welt sollte die heimische Textilindustrie gefördert werden. Entwerfer etwa konnten sich an den gesammelten historischen und zeitgenössischen Designs inspirieren – und tun das noch heute! Zudem wurden Musterbücher gesammelt. In diesen Büchern gibt es kleine Stoffstücke unterschiedlicher Formate.  Meistens wurden sie ursprünglich in textilproduzierenden Betrieben als Arbeitsmaterial verwendet.

War sowas wirklich notwendig und nicht nur nette Spielerei? Und ob! Reisende textile Muster waren wichtige Vermittler von Informationen und als solche mit ausschlaggebend für den Erfolg, resp. die Produktion von Textilien in Europa, spätestens seit dem 12./13. Jahrhundert. Wie wichtig diese Muster als Vorlagen waren, zeigt allein die Gründung des Textilmuseums.

Herzlichen Dank an Frau Dr. Karl für das interessante Gespräch!

Mehr Wissen gewünscht? Dann einfach klicken: Textilmuseum und zur aktuellen Ausstellung Fast Fashion 

 

(Bilder: Mit freundlicher Genehmigung Textilmuseum St. Gallen)