Zwei in eins – Krautrock und Seelenbilder

Gleich zwei lohnenden Ausstellungen im Museum im Lagerhaus in St. Gallen! Bereits seit 20. August werden bislang unbekannte Bijoux des Künstlers Werner Baptista aus der museumseigenen Sammlung präsentiert. Und ab dem 28. August gibt’s unter dem Titel „Kunst, Krautrock und Tarot“ fantastische Bildwelten von Ausnahmekünstlers Walter Wegmüller zu bestaunen. Nicht verpassen!

Von Werner Baptista weiss man bis heute unglaublich wenig. Er wurde 1946 in der Schweiz geboren, ging mehrere Jahre zu See und strandete schliesslich in Paris, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 2012 lebte. In Paris betätigte sich Baptista mehr oder weniger unentdeckt als Künstler, brachte offensichtlich auch die Erlebnisse seiner Seefahrer-Zeit  in Zeichnungen, Collagen und Acryl-Malereien zum Ausdruck. Man muss es als Glücksfall betrachten, dass Baptistas Nachlass von Paris aus den Weg nach St. Gallen gefunden hat. Denn als Autodidakt hat er es trotz anfänglicher Erfolge nie so recht in die Öffentlichkeit geschafft.

Über viele Jahre hinweg sind dennoch grossformatige, wunderbar-expressive Pastellkreide-Zeichnungen entstanden. Aber auch überbordende Notizbücher, wo auf jeder einzelnen Seite Collagen mit unterschiedlichsten Materialien zu finden sind. Oder grellbunte Acryl-Bilder mit dämonischen Fratzen und wilden Formen.

Werner Baptista: „Die ewige Nonne“, 26.08.1991© Museum im Lagerhaus

Werner Baptista, Ohne Titel (Skizzenbuch), 1999-2000 © Museum im Lagerhaus

Dämonische Fratzen – sowie noch vieles, vieles mehr – findet man auch im Werk des 80-jährigen Walter Wegmüller. Anlässlich seines runden Geburtstags zeigt das Museum im Lagerhaus eine gross angelegte Schau seines Lebenswerkes – und gibt dabei auch Einblicke in Wegmüllers unglaubliche Biografie.

Bilder aus dem Innersten

Als Kind von Fahrenden wurde er seinen Eltern bereits als Säugling geraubt und erlebte in den Kinderjahren unglaubliche Torturen als Verdingbub. Erst mit 21 Jahren fand er seine leibliche Mutter und damit auch seine tatsächliche Identität. Ohne den Genuss einer Schulausbildung, jedoch mit dem innigen Wunsch, seine traumatischen Kindheits-Erlebnisse zu notieren, begann er, sich nicht in Buchstaben, dafür in symbolhaften Bildern sein Inneres von der Seele zu schreiben.

Kein Wunder also, dass man in Wegmüllers Werken auf albtraumhafte Motive stösst, wie etwa den „Frontfüssler“ aus dem Jahr 1968/69 – eines seiner Hauptwerke. Aber man trifft auch auf Bilder voller Lebensbejahung, wie etwa die zahlreichen Seiltänzer-Arbeiten, in denen sich Wegmüller mutig den menschlichen Balance-Akten stellt.

Walter Wegmüller, „Frontfüssler“ 1968-69 © Walter Wegmüller

Walter Wegmüller, „Der Seiltänzer und Maler“,1994, Privatbesitz © Walter Wegmüller

Zugegeben: Diese Kunst ist weder leicht verdaulich noch entspricht sie dem, was dem Mainstream entspricht. Das ist aber auch nicht die Idee, denn das Museum im Lagerhaus ist für seine Ausrichtung auf Art Brut, Outsider Kunst und Naive Kunst bekannt. Und mit Walter Wegmüller und Werner Baptista wird es dieser Nische auf’s Beste gerecht.

Mein persönliches Statement

Was mich an beiden Künstlern so berührt, ist, dass man ihnen ihr inneres Ringen anmerkt. Wenn man vor den Arbeiten steht, spürt man, dass da vieles die Seele bedrängt und sich auf künstlerischem Wege nach aussen eine Bahn bricht. Von Baptista ist so wenig bekannt, dass man fast nur mutmassen kann, was ihm im Leben wohl alles passierte. Von Wegmüller hingegen weiss man genug, um als Betrachter jedem Bild die biografische Grundlage zuordnen zu können – das trifft.

Beide Ausstellungen laufen bis 12. November. Hier geht es zu den Öffnungszeiten

Kunst und ihre Preisgestaltung

Es passiert mir regelmässig, dass ich über die Preise staune, die – etwa auf Vernissagen – für Kunst verlangt werden. Gerade, wenn der ausstellende Künstler noch relativ unbekannt ist. Dann kann ich oft kaum nachvollziehen, wie diese Preise eigentlich zustande kommen. Was mir aber auch klar ist: Sogar die Künstler sind oft unsicher und fragen sich: „Welchen Preis darf ich eigentlich für meine Kunst verlangen?“ Denn anders als in der Wirtschaft, wo bei ähnlichen Produkten zum Beispiel Material- und Planungskosten verglichen werden können, ist das bei Kunst nicht möglich. Um für mich mal etwas Licht ins Dunkel zu bringen, habe ich nach Informationen über die Preisgestaltung für Kunst gesucht. Was ich gefunden habe und was mir davon spannend scheint, fasse ich hier zusammen. Etwas für Künstler, die sich unsicher mit ihren Preisen fühlen. Und für Käufer, die sich keinen Reim auf die Preisgestaltung machen können…

Viele machen Preise nach reinem Bauchgefühl. Das ist aber heikel. Denn schnell kann das Bauchgefühl eine Bauchlandung nach sich ziehen. Weil:

Gedanke (1): Grundsätzlich kann man sagen: Sobald ein Preis einmal festgelegt wurde, kann er, verständlicherweise, eigentlich immer nur nach oben korrigiert werden. Eine Absenkung lässt sich fast nie stimmig begründen. Denn womit will man einem Käufer auch erklären, dass ein Werk über Jahre hinweg nicht nur NICHT im Wert gestiegen ist, sondern sogar an Wert verloren hat. Na?

Gedanke (2): Dem Käufer, dem sowas passiert, geht zu Recht das Vertrauen verloren und er wird sich hintergangen fühlen. Denn immerhin hat er einst viel Geld für ein Werk hingeblättert. Und nun erkennt er, dass der gezahlte Betrag wohl nicht der Marktsituation entsprochen hat. Der verkaufende Künstler steht im schlimmsten Fall als Betrüger da.

Kunst in Schubladen gesperrt

Vor etlichen Jahren schon hat die Branche erkannt, wie schwierig es ist, halbwegs nachvollziehbare Preise für Kunst festzulegen. Aus der Not dieser Erkenntnis heraus, wurde gehandelt. Ein „Kunstkompass“ als weltweites Bewertungssystem wurde ins Leben gerufen. Der Kompass sollte durch Punkte-Verteilen nun dabei helfen, Künstler_inn_en zu klassifizieren und so deren Marktwert exakt zu bestimmen. Jährlich werden die 100 gewichtigsten Kunstschaffenden so ermittelt. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse über Jahrzehnte hinweg in den Zeitschriften Capital und manager magazin. Seit April 2015 erscheint der Kompass neu beim Magazin Weltkunst.

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Das Prinzip ist einfach: Künstler_inn_en, die die meisten Punkte einheimsen, können so (zumindest theoretisch) auch die höchsten Preise am Markt verlangen. Berücksichtigt werden u.a. an welchen wichtigen Ausstellungen (documenta, Biennale usw.) ein Kunstschaffender teilgenommen hat. Auch die Mitwirkung an wichtigen Gruppenausstellungen fällt ins Gewicht oder ob es Rezensionen in bedeutenden Kunstmagazinen gab. Überdies zählt als Pluspunkt natürlich auch, ob Werke von einflussreichen Museen angekauft wurden – oder eben nicht…

Gedanke (3): Ich kann mich der allgemeinen Meinung nur anschliessen: Dieses System ist eine sinnvolle Sache, um die Marktsituation eines Künstlers zu bewerten. Tatsächlich ist ja der, der viel ausstellt und oft Eingang in die Medien findet, ein gefragter Mann oder eben eine gefragte Frau. Über die tatsächliche künstlerische Qualität, das Mass an Ästhetik oder auch den intellektuellen Gehalt einer Arbeit kann dieses System jedoch trotz aller Bemühungen keine Auskunft geben.

Wichtig: kritische Selbsteinschätzung

Gedanke (4): Trotzdem ist es gut, sich als Kunstschaffender mit diesem System zu befassen. Und mit den Gedanken, die dahinter stecken. Man bekommt so nämlich ein bisschen Gespür dafür, wie der Kunstmarkt tickt. Zudem kann man sich ein Bild davon machen, was mittel- und langfristig alles von einem erwartet wird.

Gedanke (5): Vielleicht ist dieses System überdies eine gute Sache für Leute, die noch wenig Erfahrung damit haben, Preise für ihre Werke zu definieren. Denn auch wenn Händler und Galeristen gute Ratgeber sein könne, ist es nie schlecht, ernsthafte eigene Überlegungen zu seinem Marktwert anzustellen.

Preisgestaltung für Kunst – Die Rechenformel

Hier nun der Vollständigkeit halber noch eine abschliessende Sache: Fast jeder Kunstschaffende weiss, nach welchen Formeln und Multiplikationsfaktoren die Verkaufspreise für Kunst berechnet werden. Hier dennoch ein Beispiel: Angenommen, ein Gemälde eines bestimmten Malers hat die Masse 100 cm x 200 cm und der Künstler verlangt dafür 12’000 CHF. Dann kann ein einfacher Faktor berechnet werden. Nämlich: Höhe des Bildes in Zentimetern PLUS Breite des Bildes in Zentimetern mit 40 multipliziert GLEICH 12’000 CHF. Wendet man nun die gleiche Rechnung auf ein Bild mit den Massen 100 cm x 80 cm an heisst das: 100 cm Höhe PLUS 80 cm Breite mit 40 multipliziert ergibt 7’200 CHF.

(Aber ACHTUNG: Die „40“ ist nur Beispiel für einen persönlichen Multiplikator. Ein anderer Kunstschaffender kann den Multiplikator „15“ oder „50“ für sich ansetzen. Wie hoch der Multiplikator angesetzt wird, hängt tatsächlich von Popularität, Nachfrage… eben den Kriterien des oben beschriebenen „Kompasses“ ab.)

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Durch die Rechnung mit dem Multiplikator ist es immerhin möglich, für jeden Künstler und für jede noch so unterschiedliche Technik einen Faktor zu ermitteln. Und dieser kann dann für die Arbeiten dieses einen Künstler verwendet werde. Damit werden zumindest mal die Werke einer Einzelperson untereinander vergleichbar.
Wer sich noch an anderer Stelle im Netz hinsichtlich der Preisgestaltung für Kunst umgucken will, findet hier gute Infos: Preisrechner sowie unter Kunst Mentoring

Und wer neugierig auf das erwähnte System, den „Kunstkompass“ geworden ist, kann hier noch vertiefte Informationen nachlesen: Kunstdunst

„Wir machen keine Kunst! Wir machen Probleme!“

Ein Gespräch mit Frank Riklin 

 „Ich komm‘ sofort – mach’s dir bequem – ich hole noch was – magst du einen Kaffee – Patrik musste wegen was Dringendem nach Zürich – er sagt sorry dafür – gleich bin ich da…“ Frank, die neun Minuten ältere Hälfte des konzept-künstlerischen Zwillingspaars Frank & Patrik Riklin fegt durchs „Atelier für Sonderaufgaben“. Dann schnappt er sich den Stuhl mir gegenüber und lächelt schelmisch. „Also, was willst du wissen?“ Oh, ne ganze Menge! Fangen wir einfach mal vorne an…

Frank, du und dein Bruder Patrik seid mittlerweile bekannt wie bunte Hunde. Man weiss viel über eure Projekte – vom „Kleinsten Gipfeltreffen der Welt“ bis zum „Null Stern Hotel“. Die Medien lieben euch. Was gibt es zu erzählen, das kaum jemand weiss? Unsere Anfänge sind vermutlich relativ unbekannt. Wir sind als die beiden Jüngsten in einer Familie mit sechs Kids aufgewachsen. Unsere Eltern liessen uns viel machen, ausprobieren…. Dass wir heute in der Konzeptkunst gelandet sind, hat ganz klar was mit unserer Kindheit zu tun.

Alltag Agentur Maurus Hofer

Frank & Patrik Riklin (®Marcus Gossolt)

In wie fern? Vom neunten bis zum 18. Lebensjahr haben wir im St. Galler Staatswald Strebel hinter dem Rosenberg verschiedene Hütten gebaut. Diese „Hüttenbauerei“ war quasi unsere erste „Sonderaufgabe“. Begonnen hat alles, unserem jungen Alter entsprechend, mit kleinen Ästen und einer Wärmedämmung aus Laub und zerknülltem Zeitungspapier. Mit 18 waren wir soweit, dass wir Fundamente in den Hang betonierten und Waldhütten bauten, eigentlichen waren es Häuser, in denen wir sogar wohnten. Bis uns die Baupolizei einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Wir lebten da völlige Anarchie… und unsere Eltern haben uns das erlaubt.

Elf Jahre Hütten bauen ist eine lange Zeit. Was hat euch so daran gereizt? Der Antrieb war das Geheime: Das Bauen ohne zu fragen. Die Fantasie in die Wirklichkeit zu holen. Dieses Element hat uns später auch in die Kunst getrieben. Die Erfahrung, dass Ideen nicht nur auf dem Papier leben, sondern dreidimensional in die Welt gesetzt werden können, fasziniert uns nach wie vor.

Ihr habt dann nach der Schule beide getrennt eine Hochbauzeichnerlehre gemacht. Im Anschluss habt ihr an verschiedenen Orten Kunst studiert. Ja, wir mussten uns wohl als Zwillinge erst auseinander dividieren, bevor wir zusammenfinden konnten. Oft gab es starke Rivalitäten zwischen uns.

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EinBlick ins „Atelier für Sonderaufgaben“

Erinnerst du dich noch an…mmmh…nennen wir es mal: „Projekt X? Das erste wirklich gemeinsame Projekt eurer Laufbahn?  Aber ja. 1998 kam es zur ersten freien gemeinsamen Arbeit unter dem Titel „79 Schlafzimmer“. Da wollten wir eine gerade geborene Idee unmittelbar und innert drei Tagen umsetzen.

Was habt ihr gemacht? Wir klingelten bei 79 ausgewählten Menschen an der Haustür und baten darum,  dass sie ihr eigenes Schlafzimmer für zehn bis 30 Sekunden filmen. Dafür haben wir  unsere Kamera an der Haustür abgegeben,  liessen die Leute filmen, bekamen die Kamera zurück und gingen weiter. Fast alle haben mitgemacht. Durch diese Arbeit haben wir den Finger auf das Thema Voyeurismus gelegt – und den Voyeurismus schliesslich unterwandert.

Kurze Zwischenfrage: Warum gerade 79?  Weil man mit 79 Personen die Bevölkerungsverteilung der Stadt St.Gallen abbilden kann: Mit dieser Anzahl kann man repräsentativ aufzeigen, wie viele Reiche, Arme, Ausländer, Künstler usw… hier leben.

Okay, danke. Und wie ging es mit dem Projekt weiter?  Wir haben die Aufnahmen zu einem filmischen Ornament zusammengeschnitten und beschlossen, diese Filmarbeit genau ein einziges Mal zu zeigen. Und zwar im Lagerhaus hier in St.Gallen. Da gibt es ein Treppenhaus mit 79 Stufen. Auf jede Stufe klebten wir den Namen eines „Akteurs“. Am Treppenende war dann der Film zu sehen – allerdings ohne Hinweis, welches Schlafzimmer von welcher Person stammt. Die Zuschauer konnten nur spekulieren. Ihre Hoffnung zu erfahren, wie etwa das Schlafzimmer des Stadtpräsidenten aussieht oder ob ein Banker kreativer eingerichtet ist, als zum Beispiel ein Künstler, wurde nicht gestillt. Die Intimsphäre der Einzelnen blieb gewahrt.

Kunst ist nicht zum Selbstzweck da

Kann man den Film heute noch anschauen? Vom Film haben wir 79 Kopien angefertigt, die zum Kauf angeboten wurden. Allerdings sind alle zwischen zwei Metallplatten verschraubt. Man kann den Film folglich nicht anschauen, ausser, man zerstört das Werk. Aber auch dann gibt es nicht das zu sehen, was man sich erhofft. Denn auf dem verkauften Video sind nur Patrik und ich im Bett zu sehen. Wie gesagt: Der Film war dazu gemacht, nur ein EINZIGES Mal gezeigt zu werden… und dabei bleibt es.

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verschraubt: Nr. 65 der „79 Schlafzimmer“

Ihr habt schon damals keine halben Sachen gemacht! Wie sieht es jetzt, fast 20 Jahre später, mit euren künstlerischen Ansätzen aus? Wir sagen: Kunst braucht eine Funktion, die ein reales Verhältnis mit anderen Teilsystemen schafft. Unsere Kunst ist nicht zum Selbstzweck da. So betrachtet, machen wir keine Kunst, wir machen Probleme. Probleme sind für uns Zustände, Dinge offen zu legen. „Probleme“ sind verkleidete Möglichkeiten. Wir wollen nichts wegschieben, sondern mit dem Problem arbeiten. Da sind Überraschungen drin.

Was passiert, solltet ihr doch mal an den Punkt kommen, wo ihr keine „Probleme“ mehr macht? Naja, dieser Tag liegt hoffentlich in weiter Ferne (schmunzelt). Bisher haben wir kein einziges Projekt, das nicht Konflikt und Reibung auslöst. Wenn es jemals so weit kommen sollte,  sind wir nicht mehr die Künstler, die wir sein wollen. Unser Anspruch ist, was zu bewegen. Wenn das nicht mehr so ist, sind wir nur Dienstleister, die tun, was andere wünschen.

 

Und zum SCHLUSS natüüürlich:

Vielen Dank an Frank und Patrik Riklin: Dafür, dass ihr das Gespräch trotz wichtiger „To dos“ in Züri nicht abgeblasen habt. Und dafür, dass sich deshalb einfach Frank die Zeit für mich genommen hat. Danke für all die spannenden Infos. Und für den Kaffee!

Hier gibts noch mehr: Atelier für Sonderaufgaben, Die Zukunft gehört den Artonomisten, SRF: Freigeister unter freiem Himmel oder in diesem Blick-Bericht

 

(Bilder: freundliche genehmigt durch Frank und Patrik Riklin)

Futter für Bücherwürmer! Jammi!

Mein Fazit gleich zu Beginn: Wer dieses Jahr nur Zeit hat, ein einziges Buch zu lesen, sollte sich dieses hier schnappen! „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ ist aktuell MEINE definitive Lieblingslektüre 2017 (..leider erst jetzt entdeckt, obwohl es bereits 2013 erschienen ist…)! Selten habe ich eine so herzergreifende Geschichte mit so überzeugenden Figuren in solch meisterhafter Sprache vorgesetzt bekommen. Danke an Autor Joachim Meyerhoff, der hier als unglaubliche Hauptfigur Joki Einblicke in seine Biografie liefert! Und der es zulässt, dass man ihn auf der Reise durch sein an wahnwitzigen Alltags-Skurilitäten vollgestopftes Leben begleiten darf! 

Joki ist eigentlich ein ganz normaler Siebenjähriger: mit zwei nervigen grossen Brüdern, einer behütenden Mutter und einem Karriere machenden Vater. Allerdings gibt es eine kleiner Besonderheit in Jokis Leben. Denn sein Vater übt keinen 08/15-Beruf aus, sondern ist Chef einer Kinder-und Jugendpsychiatrischen Anstalt mit weit über 1000 Insassen. Das Zuhause der Familie liegt auf dem Anstaltsareal. Zum Geburtstagskränzchen des Vaters sind daher dann auch – selbstverständlich – Patienten wie das Mädchen Kimberly geladen. Joki ist von ihr fasziniert: „Wie eine Seifenblase im Wind hatte ihr Schädel Dellen und Ausbuchtungen“.

Und an Weihnachten besteht sein persönliches Highlight darin, zu bestaunen, wie sich die Patienten so gierig über die Geschenke hermachen, dass sie diese dabei zerstören und danach in grösstes Wehgeschrei ausbrechen.

Blutsbrüder und Fundstücke

Solche und ähnliche Erlebnisse beeinflussen Jokis Umgang mit dem Leben an sich und der Welt im Allgemeinen: Die Entdeckung eines Toten auf dem Schulweg löst keinen Schock aus, sondern Begeisterung über diesen spektakulären Fund. Und die Liebe zum Familienhund wird nicht durch einfache Schmuserunden mit diesem ausgelebt, sondern endet in einer tierisch-menschlichen Blutsbrüderschaft…

Hochpersönliche Lebens-Erinnerungen

Jochim Meyerhoff schildert in „Wann wird es endlich wieder so, wie es wie es nie war“ Episoden aus seiner eigenen Kindheit und Jugend. Hochpersönlich, farbig, gnadenlos und bei alledem liebevoll, schenkt er dem Leser Einblick in seine Persönlichkeit, die seiner Brüder und Eltern. Ganz schnell hat man diese normale und zugleich so ausserhalb der Normalität lebende Familie ins Herz geschlossen. Und auch wenn Meyerhoffs Erinnerungen gewiss irrwitziger sind, als die der meisten Menschen: Fast alle scheinen vertraut und ähneln dem ganz normalen Wahnsinn, den wohl jeder aus eigenen Alltagssituationen kennt.

Mehr zum Buch auch hier: FAZ

Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich so, wie es nie war, KiWi Köln, 28. Aufl. 2017
ISBN978-3-462-04681-6

Annina Thomann, St. Gallen (SG)

Wer Annina Thomann ist: Annina Thomann (*1987) studierte an der Hochschule der Künste Bern und der Universität Bern, zudem absolvierte sie im Rahmen des Erasmus-Austauschprogrammes ein Semester an der Rietveld Academy Amsterdam. Seit dem Schuljahr 2016/2017 unterrichtet sie im Vorkurs für Jugendliche an der GBS St.Gallen. Sie arbeitet im Vorstand der Visarte Ost und ist mitverantwortlich für das Programm des Kunstraum Nextex. Annina Thomann stellte bereits in zahlreichen Gruppenausstellungen aus, darunter bei den Kunstwegen 2017 in Pontresina, 2016 im Kulturort Weiertal, Winterthur, im Jahre 2014 beim Artfestival, Glasgow und den Maiblüten, Berneck SG sowie 2012 in der Galerie jonkergow kunstwerk in Amsterdam. 2016 erhielt Annina Thomann einen Werkbeitrag der Stadt St.Gallen.

Annina Thomann – Ausschnitt aus der Werkserie «to build»

 

Über die Werkserie «to build»

Aus stabil wird labil, aus genormt wird verformt. Für die Werkserie «to build» arbeitete die St.Galler Künstlerin Annina Thomann mit Industriekeramik. Sie verwendete standardisierte keramische Bausteine als Ausgangsstoff für materielle, formale und räumliche Experimente. Backsteine werden in der Industrie in grossen Mengen und immer gleichen Massen gefertigt. In Ziegeleien wird aufbereiteter Ton in die richtige Form gepresst, in der richtigen Länge zurecht geschnitten, getrocknet und anschliessend gebrannt. In diesen hochtechnologischen Herstellungsprozess greift Annina Thomann ein. Sie lässt andere Abschnittsgrössen zu und setzt die weichen Rohlinge unterschiedlichen Krafteinwirkungen aus. Die unterschiedlich langen Quader werden zerteilt, fallen gelassen, geworfen, gedrückt und gequetscht. Durch die Krafteinwirkung biegen sich die Backsteine und wölben sich. Sie sacken zusammen und sind in sich verdreht. Das ursprünglich glatt verarbeitete Material reisst ein. Mitunter entstehen einzelne grosse Risse, die den Stein beinahe zu spalten scheinen. An anderen Stellen gibt es viele feine Risse in gleicher Richtung. Was in der Industrie als Fehler und somit als Ausschuss deklariert werden muss, sorgt in der künstlerischen Arbeit Annina Thomanns für Dynamik und neue Ansichten eines alltäglichen Materials. So zeigen sich entlang der Fabrikations-bedingten Rillen nun Faltungen. Ihr sanfter Schwung kontrastiert mit der ehemaligen Blockform des Backsteines.

Zerfall als Teil des Formungsprozesses

Nicht nur die äussere Form der Backsteine erfährt Transformationen. Annina Thomann lenkt den Blick auch auf das Innenleben der Backsteine. Aus rechteckigen Löchern werden im Zerteilungsprozess dreieckige Schächte oder langgezogene Rechtecke. Insbesondere bei den kleineren Backsteinen zeigen sich verzerrte Öffnungen. Sie erlauben neue Durchblicke und einen unterschiedlichen Lichteinfall. Der Zufall ist selbstverständlicher Bestandteil dieser Formungsprozesse. Er wird nicht nur zugelassen, sondern bewusst integriert. Dennoch bleibt die ursprüngliche Gestalt des Massenproduktes immer ein Teil der neuen Körper und neuen Binnenformen. Die neuen Formen sind Variationen über ein Thema, das Konstanten wie Farbe, Materialität und Umfang festschreibt, aber ungeahnte Modifikationen der Gestalt zulässt.

«to build» ist nicht nur eine Arbeit über das Verformungspotential der normierten Backsteine, sondern auch über Architektur und Konstruktion.

(Text: Kristin Schmidt – anlässlich der Verleihung des Werkbeitrags 2016 an Annina Thomann)

Zusätzliche Infos zur Künstlerin Annina Thomann und ihrer Arbeit finden sich in diesem Tagblatt-Bericht!