Kein Leben „von der Stange“

Es war im Palace in St. Gallen, letzten November, als ich Claudia Roemmel kennenlernte. Sie war dort zu einer Preisverleihung. Genauer gesagt, um den Förderungspreis 2015 der Stadt für ihr tänzerisches und choreografisches Schaffen entgegen zu nehmen. Wir kamen ins Gespräch und ich merkte schnell, dass ich diese spannende Frau, eine wahres Kultur-Chamäleon, gerne mal interviewen würde. Claudia willigte ein. Leider erkannte ich beim nachfolgenden Treffen aber auch sehr schnell, dass ein „klassisches Interview“ mit diesem Energiebündel zum Scheitern verurteilt wäre: weil Claudia einfach viel zu viel Lesenswertes zu erzählen hat. Am Schluss haben wir aber doch noch ein Interview hingekriegt. Eines der etwas anderen Art. Zu lesen bekommt ihr es hier.

Ein Geständnis vorweg: Es warf mich schier um, als Claudia Roemmel mir beim Treffen schilderte, was sie in ihrem Leben als Kunstschaffende schon so alles auf die Beine gestellt hat. Und da dachte ich, dass es weder ihrer Persönlichkeit noch ihren Aktivitäten gerecht wird, nur schön sortiert ihre kreativen „Stationen“ aufzulisten. Vielmehr schien die Idee passend, ein „Interview“ zu führen, in dem Claudia beschreibt, was gewisse Begriffe für sie, ihre Kunst und ihr Leben bedeuten. Und nach diesen Begriffen habe ich sie gefragt:

„Flugbegleiterin“

In meinem „letzten“ Leben hab ich tatsächlich ein paar Jahre lang sporadisch über den Wolken gearbeitet. Heute begleite ich mich selbst und andere auf Gedankenflüge. Das bedeutet, das Abheben zu wagen und in die Landung zu vertrauen. Während dem Flug geht es darum, eine angemessene Geschwindigkeit beizubehalten, Fluss und Momentum zuzulassen, die Aussicht zu geniessen, den Überblick zu nutzen, Grenzen und Regeln anzuerkennen – und (wichtig!) Freiheiten zu geniessen. Wenn ich den Lead bei einem Projekt habe, weiss ich wohin ich will, lass mich aber auch von aufkommenden Winden tragen, lenken und inspirieren.

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„Flugbegleiterin“

„Ex-Clown“

Mit 25 wollte ich Clown werden und bin – wie die Jungfrau zur Kinderkrippe – an die Dimitrischule gelangt. Von dort habe ich über die Pantomime zum Tanz gefunden. Vom Tanz zum Theater. Vom Theater zum Text. Dann plötzlich Video. Webdesignerin. Körpertherapeutin. Wenn mich heute jemand fragt, was ich arbeite, komme ich ins Stottern. Irgendwie alles – da wo ich gefragt bin, bin ich. Denn da wo ich gefragt bin, scheine ich irgendeine Art von Talent zu haben. Und da wo ich herausgefordert werde, komme ich in meine Kraft.

„Klassisches Ballett“

Mein Tanz kommt nicht von der Stange. Ich habe Neuen Tanz studiert – d.h. ich beschäftige mich mit Improvisation. Wie gestalte ich den Augenblick? Wie verbinden sich Innenimpulse mit Aussenimpulsen? Das Spiel mit Raum und Zeit interessiert mich seit vielen Jahren – ich habe es bereits vor 20 Jahren Performance genannt und auf Bühnen und Strassen erprobt. Heute gibt es einen regelrechten Performance-Hype, der von der bildenden Kunst herkommt. Ich bewege mich wohl irgendwo in der Mitte zwischen den herkömmlich Klassischen und den neuzeitlich Performenden. Das gibt mir eine wunderbare Freiheit.

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„Ballett“

„Sparten-Grenzen“

Ich liebe Ordnung – und schmeisse mich immer wieder ins Chaos. Am liebsten hätte ich alles ganz schön in Kästchen und Schubladen verpackt und sortiert. Stattdessen kugelt bei mir im offenen Feld das eine nach da, das andere nach dort. Ich geniesse alles puristische – und gleichzeitig verbindet sich dieses mit jenem und jenes will vom wieder anderen ergänzt werden. Tanz – Bild – Raum – Begegnung – Sprache – Spiel – alles Inspiration, alles zusammengehörend. Und das mit der Ordnung kann warten….

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„Sparten-Grenzen“

„2016“

Bei meinem ersten Kitesurfversuch hab ich vor kurzem einen wichtigen Begriff gelernt: De-Power. Den Drachen bringt man unter Kontrolle, indem man ihm „mehr Leine lässt“. Dann stabilisiert er sich selbst im Wind, ohne dass man sich allzu sehr anstrengen muss. So darf mein 2016 werden. Ein bisschen loslassen, Power rausnehmen und schauen, was von selbst hält und fliegt. Ein Buchprojekt ist bereits im Steigflug, Unterrichtsprojekte auf der Startpiste – und heimlich noch im Hangar verborgen, warten neue Flugobjekte, von denen ich noch nicht genau weiss, welche dann tatsächlich flugtauglich sind.

(Bilder: Claudia Roemmel)

Claudia, besten Dank für deine Antworten.

Wer mehr erfahren will, findet übrigens hier weiteres „Futter“ zu Claudia