Appenzeller Vielfalt durch Austausch mit der Welt
Im Gespräch mit Heidi Eisenhut.
Ihre Augen blitzen, wenn sie Worte wie „Psychosophische Gesellschaft“, „Kulturtransfer“ oder „kollektives Gedächtnis“ in den Mund nimmt. Ich bin gespannt auf mehr. Denn Heidi Eisenhut kann viel und mitreissend erzählen. Seit zehn Jahren leitet die promovierte Historikerin die Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden. Wie vielseitig das ist und was sie sonst noch begeistert, erzählt sie hier …
Heidi, du sagst, du seist ein Kind der Appenzeller Hügel. Aber während Ausbildung und Studium warst du doch in Paris und Zürich. Wieso hat‘s dich wieder zurückgezogen? Ich mag diese Landschaft. Während meines Studiums war ich immer auch hier; der Liebe wegen und als Mitglied im Vorstand des Heimatschutzes und in der kantonalen Kommission für Denkmalpflege. Was mich an meiner Arbeit hier so fasziniert, ist, dass der Raum geografisch zwar klein ist und in der Peripherie liegt. Aber er ist so reichhaltig, dass sich am Beispiel des lokalen kulturellen Erbes fast alle Themen in einen grösseren Kontext stellen lassen.
Was genau meinst du damit? Das Leben – die Orte, an denen wir uns aufhalten, unsere Begegnungen, Erlebnisse, Erfahrungen – besteht aus Geschichten. Und diese Geschichten teilen wir mit anderen Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ausserdem teilen wir sie je nach individueller Ausprägung auch mit Menschen anderer Kulturen und Mentalitäten. In der Kantonsbibliothek sind wir einerseits für Bücher zuständig, in denen solche Geschichten mit Bezug zu unserem geografischen Raum dokumentiert sind. Wir beherbergen überdies Vor- und Nachlässe von besonderen Menschen und Vereinigungen, die den Kanton geprägt haben und prägen. Das sind zum Beispiel Kunstschaffende, aber auch Familien wie die Textilhandelsfamilie Zellweger aus Trogen. Diese ganz unterschiedlichen Dinge anzuschauen, ihre Verbindungen zueinander und zu uns Heutigen aufzudecken, das ist wunderbar. So erfahren wir immer mehr über unseren Kanton und können das dann weitererzählen.
Du und dein Team arbeiten also nicht im „stillen Kämmerlein“? Keinesfalls. Wir haben einen ganz klaren Vermittlungsauftrag. Wichtig ist uns, dass hier nichts Elitäres passiert. Sondern dass es uns gelingt, in der Öffentlichkeit die Vielfalt unseres Kantons sichtbar zu machen. Wir wünschen uns, dass sich die Menschen hier mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen. Ich persönlich versuche deswegen auch, Themen, die diese Vielfalt und manchmal auch Unerwartetes und Staunenswertes aufzeigen, an die Öffentlichkeit zu tragen. Gerade in der heutigen Zeit scheint es mir wichtig, den Menschen weiterzugeben, dass früher nicht alles besser war. Immer schon haben sich die Welt und die Lebensumstände verändert. Und auf offene Fragen gab, gibt und wird es immer Antworten geben.
Kulturtransfer hat das Appenzellerland geprägt
Als Historikerin liegt dir die Vergangenheit also besonders am Herzen? Das ist falsch formuliert. Wer die Vergangenheit kennt und versteht, kann sich auch auf die Gegenwart besser einlassen und in ihr agieren. Das Appenzellerland, das wir heute kennen und dessen Stärken wir loben, hat sein Profil nur dank eines Kulturtransfers erhalten, der im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine Blütezeit erlebte. In Appenzell Ausserrhoden prägte der Fernhandel den Austausch. Und auch der Tourismus: Menschen kamen und gingen; Einflüsse aus ganz Europa, ja aus der ganzen Welt fanden hier ihren Niederschlag. Und nicht zu vergessen: Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Schweiz ein Auswanderungsland … Andersherum war die Gegend hier aber auch immer schon Rückzugsort für Personen, die als besondere Gruppierungen in relativer Abgeschiedenheit leben und eigenen, besonderen Lebensformen ungestört nachgehen wollten und wollen.
Gibt es da ein konkretes Beispiel? Ja. Die Psychosophische Gesellschaft mit Sitz in Stein AR fällt mir da spontan ein. Deren Kern bestand aus wenigen Personen: einem Guru namens Hermann J. Metzger und drei bis zeitweise vier Frauen. Diese Menschen haben sich nach 1945 zusammengetan. Sie beriefen sich zu ihrer Blütezeit in den 1960er Jahren auf Aleister Crowley. Das war ein britischer Okkultist, der in Italien die Abtei Thelema führte. In Stein gründeten sie eine Abtei gleichen Namens und hielten dort u.a. gnostisch-katholische Messen ab. Sie betrieben ein Labor für Heilmittel, eine Wetterstation, eine Druckerei mit eigenem Verlag und Publikationen und führten einen Hotelbetrieb. In den 1970er Jahren wurde ihre Vereinigung mit dem Mord an der US-Schauspielerin Sharon Tate in Verbindung gebracht. Man warf ihnen sexual-magische Praktiken und Satansmessen vor.
Und wie ist diese Psychosophische Gesellschaft mit der Kantonsbibliothek verbunden? Die Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden hat 2009 den Nachlass der Psychosophischen Gesellschaft unter dem Namen „Collectio Magica et Occulta“ übernommen. Konkret handelt es sich dabei um eine Bibliothek mit 10’000 Titeln sowie ein umfassendes Archiv. Anfang November 2016 hat die Historikerin Iris Blum in unserem Auftrag unter dem Titel „Mächtig geheim“ ein Buch zur Psychosophischen Gesellschaft und deren Geschichte veröffentlicht.
Puh, bei euch ist ja wirklich viel los! Es wird nie langweilig! Und das gefällt mir. Ich habe noch viele Pläne. Bei uns gibt es zahlreiche interessante Themen, manchmal fast zu viel … Aufgrund unserer Grösse – oder wenn man so will „Kleine“ – haben wir die Chance, in Kooperation mit Menschen und Institutionen verschiedener Herkunft Projekte ganz unterschiedlichen Charakters zu realisieren.
Herzlichen Dank an Heidi Eisenhut für die spannenden Einblicke!
Mehr Infos zur Psychosophischen Gesellschaft gibt’s übrigens in der aktuellen November-Ausgabe des SAITEN-Magazins.
Weiteren interessanten Input findet man auf SRF , auf der Website der Kantonsbibliothek sowie bei diesen Hinweisen zur Familie Zellweger